Tirschenreuther Himmelsleiter

Konfrontation

Wir alle haben Ängste. Manche davon sind begründet, manche unbegründet. Angst ist für uns ein überlebenswichtiges und ganz normales Gefühl, denn das Gefühl der Angst weist uns auf Gefahren hin. Manchmal entstehen Ängste aber auch, obwohl es keine konkrete Gefahr gibt. Der Klassiker ist hier sicherlich die Angst vor Spinnen, die zumindest in Nordeuropa unbegründet ist, da es hier keine gefährlichen Giftspinnen gibt. Es gibt also rational keinen Grund sich vor Spinnen zu fürchten, trotzdem ist diese Angst weiter verbreitet.

Dies ist der Bereich der irrationalen Ängste und diese können auch uns Jägerinnen und Jäger treffen. Das uns im Hochsitz mal eine Spinne besuchen kommt ist immerhin völlig normal, damit müssen wir leben. Was aber, wenn eine irrationale Angst verhindert, dass man den Hochsitz überhaupt besteigen kann, man also gar nicht erst nach oben kommt?

Von solch eine Angst war meine Freundin Claudia betroffen: Sie konnte einfach keine Leitern hochsteigen. Sie verkrampfte regelrecht ab der dritten Sprosse und dann ging nichts mehr. Dabei hat sie keine wirkliche Höhenangst, sondern es drehte sich bei ihrer Angst explizit um das Besteigen von Leitern.

Oben auf der Leiter
Oben auf der Leiter…

Blöd in diesem Zusammenhang natürlich, dass Claudia unbedingt die Jägerprüfung ablegen wollte. Dazu musste sie auch hohe Ansitze besteigen können, also entschlossen wir uns zu einer Konfrontationstherapie. Im Wald. An einer drei Meter Leiter.

Es war im Spätsommer 2019 auf der Jagd nach dem ersten Rehbock. Wir waren eine Woche beim Staatsforst NRW im Jagdurlaub in einer sehr rustikalen Hütte und in dem reinen Waldrevier gab es nur drei Meter Leitern, also packten wir die Gelegenheit beim Schopf und versuchten diese irrationale Angst gleich beim ersten Ansitz zu überwinden.

Wir gehen also leise den Pirschweg zum Mittagsansitz. Die Leiter ist an der Kante einer Lichtung platziert. An der Seite der Lichtung steht eine Salzlecke als Jagdhilfeeinrichtung, die vom Rehwild und wohl auch vom Schwarzwild gut angenommen wird, wenn man sich die Fläche davor anschaut. Alles aufgebrochen.

Wir erreichen den Ansitz, ich spähe auf die Lichtung und am anderen Ende steht tatsächlich ein Bock. Ich kann nur von der Leiter aus schießen, weil ich sonst keinen sicheren Kugelfang haben. Jetzt heißt es also schnell sein und die Leiter hoch. Claudia beginnt leise das Aufbaumen, doch nach fünf Sprossen geht es nicht weiter. Sie verkrampft und zittert, der Bock zieht langsam näher zu uns, nascht hier nascht da, hat uns noch nicht bemerkt. Der Wind steht gut.

Claudia kommt langsam wieder nach unten und ich ermutige sie es noch mal zu versuchen, doch die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. Der Bock ist inzwischen ziemlich nah und dann ganz plötzlich springt er ab, da er uns ganz offensichtlich bemerkt hat. Egal. Wir müssen jetzt erstmal diese Leiter bezwingen, der Bock wird sicherlich noch mal auftauchen.

Also der nächste Versuch und diesmal erreicht Claudia immerhin schon Sprosse Nummer sieben, aber dann geht es wieder nicht weiter. Tränen fließen. Ich fühle mit ihr, denn auch ich kenne solche irrationale Ängste, wobei es bei mir nicht unbedingt Ängste sind, aber manchmal tauchen in meinem Kopf Erinnerungen an Situationen auf, die noch immer an mir nagen, mich zweifeln lassen. Aber man kann die Vergangenheit nicht ändern. Es ist, wie es ist.

Wir warten ein wenig, Claudia beruhigt sich und ich versuche ihr zu erklären, dass die Angst nur in ihrem Kopf ist, dass es nicht gefährlich ist eine Leiter zu besteigen und das man es nur einmal überwinden muss, damit der Kopf erkennt, dass keine Gefahr vorliegt und er nicht mit Angst reagieren muss. Rationalität und Angst sind allerdings zwei sehr gegensätzliche Konzepte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwierig das ist.

Sie startet den nächsten Versuch und schafft es dieses Mal tatsächlich bis ganz nach oben. Sie kann sich allerdings nicht setzen, weil ein Fußbrett im Weg ist. Sie müsste noch eine Sprosse weiter hoch, aber da ist eben das Fußbrett im Weg. Also kommt sie wieder nach unten, ich steige nach oben und richte das Fußbrett, so dass man die Sprosse dort benutzen kann.

Beim nächsten Anlauf schafft sie es dann wieder bis nach oben und nach einiger Zeit und Überwindung schafft sie es tatsächlich sich auf die Sitzbank zu setzen. Bei Leitern ist das ja etwas seltsam, weil man sich auf der Leiter stehend nach hinten setzen muss. Das da der Kopf erstmal “Alarm” ruft, das kann ich nachvollziehen. Aber: Sie sitzt, es ist geschafft. Ungefähr eine halbe Stunde hat es gedauert. Nicht nur ein auf und ab auf der Leiter, auch ein auf und ab der Gefühle.

Auf dem Ansitz passiert nichts weltbewegendes mehr, auch der Bock taucht leider nicht mehr auf. Irgendwann wollen wir dann abbaumen und ich steige zuerst ab. Bei Claudia dauert es etwas, aber es klappt dann doch problemlos.

In den nächsten Tagen wird es bei Claudia mit dem Aufbaumen immer besser, es ist in ihrem Fall wirklich so, dass diese irrationale Angst nur ein einziges Mal überwunden werden wollte, das hat gereicht, die Reaktion des Gehirns auf diese “Gefahr” anders zu konditionieren. Direkt beim nächsten Ansitz geht sie schon zügig die Leiter hoch, fast als wäre nie etwas gewesen.

Den Bock sehen wir übrigens während der gesamten Woche kein zweites Mal. Der erste Ansitz war die einzige Gelegenheit, wo ich ihn hätte erlegen können. Den Bock habe ich aber gerne ziehen lassen, wenn bei Claudia dem Jagen nun nichts mehr entgegen steht.

Ich bin stolz auf sie. Ängste hinter sich zu lassen – gerade wenn sie rational nicht erklärbar sind – ist eine schwierige Sache. Es erfordert Mut und Überwindung. Aber der Lohn dafür ist, dass sie heute selbst mit einer 5 Meter Leiter kein Problem mehr hat.

Also: Egal wovor Du Angst hast, habe bitte keine Angst vor der Konfrontation damit. Es lässt sich ändern. Du musst es nur tun.

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